Extraktion 


Das Handwerk der guten Gerbstoffe

Alles, was Sie in einem Rotwein sehen, riechen, schmecken und fühlen, kommt aus der Schale der Beeren. Während der Rotweinbereitung machen Winzer:innen nichts anderes, als jene Informationen aus der Beerenschale zu extrahieren, die sie durch ihre Arbeit im Weinberg das ganze Weinjahr über ihren Trauben zu vermitteln versucht haben. Sie »lutschen« sie durch den Kontakt des Mostes mit der Schale aus dieser buchstäblich heraus; siehe Bild links: Dunja Ulbricht extrahiert Syrah vorsichtig per Hand. Der Witterungsverlauf über das Weinjahr hinweg beeinflusst Dicke und chemische Beschaffenheit der Beerenschale ebenso, wie der Charakter der Rebsorte(dünnschalig oder dickschalig), die Bodenbearbeitung und die Bodenbeschaffenheit, der Ertrag, der Lesezeitpunkt und vieles mehr. 

Eine Winzerin bzw. ein Winzer macht in seinem Leben zwischen 30 bis 50 Mal Wein. Er macht dies nur einmal pro Jahr. Dazu geht man vor der Lese immer wieder in den Weinberg, zerkaut dort aufmerksam viele Beeren und überlegt sich in dem Augenblick, welche Konsistenz und Dicke deren Beerenschale hat, wie das Verhältnis von Saft zur Größe der Beere in dem Jahrgang ist, wie deren Kerne schmecken und beschaffen sind, usw. Aus diesen Informationen entscheidet man dann zusammen mit einer Zucker- und evtl. einer pH-Wert-Analyse mit seiner ganzen Erfahrung, wie die Beeren des Jahrgangs verarbeitet werden sollen - entrappen oder nicht; Maischestandzeit wie lange und bei welcher Temperatur; Pigeage oder nicht; usw.  

In den letzten Jahren ist die Extraktion der Beerenschalen im Rotweinbusiness zum entscheidenden Stilmittel geworden. Aus neuen wissenschaftlichen Untersuchungen weiß man, dass die Extraktion der ersten Stunden die entscheidende ist. Bis vor wenigen Jahren sah man in möglichst langen Extraktionsphasen von bis zu sechs Wochen auf der Maische, also lange über die alkoholische Gärung hinaus, das entscheidende Qualitätsmerkmal. Heute weiß man, dass das falsch war. Es mag noch immer Rebsorten geben, die das vertragen. Es mag noch immer Weingüter geben, die so lange Maischezeiten für ihre Stilistik für richtig erachten. Insgesamt hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Qualität des Lesegutes der alles entscheidende Faktor ist, dass die Starttemperatur der Gärung nicht minder wichtig ist und dass die Anfangsphase der Gärung und damit der Extraktion für die geschmackliche und physikalische Qualität der Gerbstoffe viel wichtiger ist, als die reine Dauer des Maischekontaktes. Deshalb wird heute z. B. sehr genau überlegt, ob man die Maische so systematisch taucht, bewegt und rührt wie noch vor wenigen Jahren. Sie wird heute eher mäßig bewegt und dafür eher überschwallt mit dem Most, den man unten abzieht, um ihn oben über die Maische zu pumpen. Schonende Extraktion ist heute angesagt mit sehr viel mehr Wissen über die chemischen und physikalischen Vorgänge während der Extraktionsphase. Deshalb hat sich in den letzten Jahren die Qualität der Gerbstoffe in den guten Rotweinen der Welt so positiv verändert.

Bis vor wenigen Jahren hat man dem Wie der Extraktion nur Rezepte gewidmet. Es sind tatsächlich nur wenige Sekunden, die darüber entscheiden, ob die Gerbstoffe eines Jahrgangs fein, elegant, frisch und lang oder aber hart, trocken und spröde ausfallen. Galten bis vor kurzem gerbstoffreiche, konzentrierte Rotweine als das Maß aller Dinge, weiß man heute, dass die Qualität der Gerbstoffe für Haltbarkeit und Entwicklungsfähigkeit viel wichtiger ist, als ihre pure Präsenz. Deshalb werden Rotweine heute schonender und kürzer auf der Schale mazeriert und damit extrahiert, als man es noch vor wenigen Jahren praktizierte. Es ist große Kunst, die immense Erfahrung und Kompetenz voraussetzt, diese Gerbstoffe schon während des Ausbaus z. B. im Holzfass, so zu beeinflussen, dass sie zu weniger adstringierend wirkenden, langkettigen Molekülen polymerisieren, die den Wein nicht nur jung schon angenehmer trinkbar, sondern auch seine Entwicklung auf der Flasche zuverlässig machen. »Gute« Gerbstoffe fühlen sich auf der Zunge lang an. Sie wirken wie Kaschmir, Schurwolle, Tweed oder Flanell. Sie sind weniger Geschmack, als Gefühl.


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