Gerbstoffe | Tannine


Tannine sind Gerbstoffe. Gerbstoffe sind Polymer-Ketten, an denen außen die Farbstoffe (Anthocyane) angekoppelt sind. Diese Kettenverbindungen werden heute schon während der Weinbereitung gezielt durch Kontakt mit Sauerstoff verlängert und damit stabil gemacht. So verwendet man Holzfässer heute weit weniger, um sie als würzigen Rahmen für den Wein einzusetzen, als vielmehr für das Sauerstoff- und damit das Tannin-Management (Mikrooxigenierung) des darin ausgebauten Weines. Rotwein braucht für die Entwicklung seiner Gerbstoffe wohldosierten Sauerstoff. Mittels Begrünung, Ausdünnen und Blattwerksteuerung steuern Winzer:innen die physiologische, also aromatische, Reifeentwicklung der Gerbstoffe in den Beerenschalen. Im Keller geht es anschließend darum, die vielfältigen Informationen des Jahrgangs über Extraktion und Konzentration auf optimale Weise in entsprechend individuelle Qualität zu übersetzen.  

Galten in den letzten dreißig Jahren - maßgeblich beeinflusst vom amerikanischen Weinkritiker Robert Parker - dicke, fette, weiche Rotweine mit süßlichen Tanninen und kraftvoll opulentem Körper als das Maß aller Dinge, stehen heute Rotweine mit Trinkfluss, eher verhaltenem Alkohol und feinem, geschmeidig kühlem Körper, also einer gänzlich anderen Gerbstoffstruktur, im Fokus der Weingüter und der Weinkritik. Ambitionierte Rotweinwinzer:innen von heute wollen nicht mehr nur merkantilen Klischees folgen. Auch gezwungen durch den Klimawandel beschäftigt man sich heute, ganz anders als noch vor zehn Jahren, heute vor allem mit der Physiologie der Beeren. Die Gerbstoff-Qualität wird im Weinberg konzipiert und produziert - nicht mittels Gummi Arabicum, Eichen-Chips und anderen, auch im Biowein erlaubten, geschmacksverändernden Manipulationen im Keller, die aus der Trickkiste der modernen Önologie stammen. 

Rotwein nach Klischee (moderne Önologie) und Rotwein als Ausdruck von Terroir (Rebsorte, Herkunft, Arbeit im Weinberg, Persönlichkeit und Philosophie des Weingutes) treiben Markt und Angebot radikal auseinander. Die Forschung unterstützt die Entwicklung... Sie kann nicht nur nachweisen, dass qualitativ hochwertige Gerbstoffe (die die zuverlässige Entwicklung eines Rotweines ebenso gewährleisten, wie sie ein besseres Mundgefühl offenbaren) zu Beginn der Extraktionsphase entstehen, sondern auch, dass die Extraktion der Beerenschale umso hochwertigere Gerbstoffe produziert, je weniger massiv die Maische mechanisch bewegt wird. Deshalb extrahiert man heute hochwertige Rotweine viel schonender als noch vor ein paar Jahren. 

Die vielen ausgetrocknet wirkenden, heute bereits zerfallenden Rotweine der neunziger Jahre, vor allem auch im Bereich über 50.- Euro, legen Zeugnis dieser Fehlentwicklung ab. Wer daraus als Weingut nicht gelernt hat, hat heute entweder ein Problem, oder Kund:innen, die noch immer diesem Geschmacksbild huldigen. 

Alles, was man einem Rotwein an farblicher, aromatischer und struktureller Information entnehmen kann, hängt von Beschaffenheit und Qualität der Beerenschale der verarbeiteten Trauben ab. Die gesamte Arbeit eines Weinjahres, vom Klimaverlauf, dem Rebschnitt, über die Wahl des richtigen Lesezeitpunktes bis zum optimalen Gesundheitszustand der Trauben, schlägt sich in der physikalisch-chemischen Beschaffenheit der Beerenschale nieder und damit unmittelbar in der Struktur und der Qualität der Gerbstoffe. Ein Faszinosum besonderer Art: Ein Jahr Natur wird unmittelbar fühl- und schmeckbar.  Vorausgesetzt, es wurde am Wein nicht herummanipuliert, was heute leider in den allermeisten Fällen üblich ist. 

Darin unterscheiden wir uns von anderen Händlern, denn wir achten extrem darauf, dass unsere Weine so unmanipuliert, wie möglich auf Flasche kommen. Denn nur dann kann man tatsächlich in den Gerbstoffen eines Rotweines mehr fühlen als schmecken, ob dieser industriell standardisiert, brav handwerklich oder ambitioniert individuell hergestellt wurde.

Das bedeutet nicht, dass hochwertige Tannine immer »schön« sind, also weich, rund, geschmeidig und süßlich in der Wirkung. Hochwertige Gerbstoffe sind vor allem natürlich und unmanipuliert. Sie reflektieren also zunächst vor allem den Charakter ihrer Rebsorte. Grundsätzlich kann man Rotweine danach unterscheiden, ob sie aus dünnschaligen oder dickschaligen Rebsorten gekeltert wurden. Der Unterschied ist elementar:

Dünnschalige Rebsorten wie Pinot NoirSyrah oder Grenache wirken eher fein auf der Zunge, duften durch ihren hohen Gehalt an Flavonolen eher beerig als würzig, sind transparent in den Gerbstoffen, können fast duftig wirken und zart, fühlen sich nur verhalten adstringierend an, können aber natürlich, je nach Qualität, trotzdem imposant dicht, kompakt und präsent im Mundgefühl wirken. Ihre Weinbereitung benötigt Fingerspitzengefühl, um ihre empfindlichen Farbpigmente und flüchtigen Aromabestandteile stabil und komplex ins Geschmacksbild zu integrieren. In der Abschätzung von Maischestandzeit und Extraktionsart und -dauer muss das Verhältnis von Beerenschalendicke zu Saftvolumen berücksichtigt werden, weil dünnschalige Rebsorten viel sensibler auf die Art und Weise der Weinbereitung reagieren, als dickschalige Rebsorten. Nicht umsonst gibt es für dünnschalige Rebsorten eine ganze Reihe stilbildender Weinbereitungsarten. Exemplarisch erwähnt sei die Kaltmazeration von Pinot Noir, die nicht nur höhere Farbausbeute, sondern auch eine vollere würzigere Aromatik liefert, oder die Ganztraubenvergärung, die insbesondere dünnschaligen Rebsorten durch die Mitverwendung von Stiel und Stängel in der Extraktion eine ganz andere, sehr viel ätherischer wirkende Gerbstoffstruktur verleiht, als wenn man die Trauben abgebeert vergären.

Dickschalige Rebsorten wie Cabernet SauvignonMalbecTannat oder Carignan verlangen in der Extraktion profunde Erfahrung. Ihre mächtige Gerbstoffpräsenz, ihre Fülle an geschmacklicher Information, benötigt eine sehr sorgfältige, ganz an Chemie und Physik der Gerbstoffe ausgerichtete Extraktion. Sie besitzen eine dunkle, dichte Farbe. Ihre Anthocyandichte, also der Farbstoffgehalt in den Beerenschalen, und ihr Polyphenolgehalt sind höher als bei dünnschaligen Sorten. Sie besitzen nicht nur höhere Extraktwerte, also Inhaltsstoffe, sondern auch höhere Gehalte an antioxidativen Verbindungen, die sie besonders gut und lange reifen lassen. Dickschalige Rebsorten benötigen zur Zähmung ihrer Adstringenz eine Weinbereitung, die auf die Polymerketten ihrer Tannine abgestimmt ist. Sie kann man auf der Zunge als sauer, rauh und bitter erleben. Deshalb mazeriert man viele dickschalige Rebsorten in offenen Holzbottichen oder Edelstahltanks und lässt sie entsprechend lange im Holzfass gären und reifen, um ihre kurzkettigen Gerbstoffketten durch gezielten Sauerstoffkontakt zu verlängern. So verwandelt man auf rein physikalische Weise ihre massive Präsenz in weiche, zugängliche und hochwertig lange im Mund nachwirkende Struktur  - weshalb man Rotweine oft dekantiert.

Wenn man sich also ein wenig Erfahrung mit den verschiedenen Arten, Strukturen und Typen von Gerbstoffen angetrunken hat, und nicht immer nur das eine Erlebnis im Mundgefühl sucht, von dem man glaubt, es wäre das eigene Ideal, dann gelingt es irgendwann, anhand von Menge, Art und Wirkung der Gerbstoffe im Mundgefühl auf das Preisniveau eines Rotweines zu schließen. 

Der Klimawandel ist inzwischen massiv im Wein zu spüren, weil er die Trauben von Jahr zu Jahr anders ausreifen lässt. Deshalb macht es Sinn, sich im Rotwein mit den Gerbstoffen grundsätzlich zu beschäftigen. Nicht, um in ihm schöne weiche, samtige Gerbstoffe zu suchen und zu finden - die kriegt die Kellertechnik heute bei jeder Rebsorte und in jedem Wein hin, egal ob dick- oder dünnschalig, unbekannt oder berühmt, billig oder schweinteuer - sondern um sie erfühlen und erleben zu lernen, die natürlich echten, ungeschminkten Gerbstoffe, die jedes Jahr anders ausfallen und jeder Rebsorte ihren ganz eigenen Charakter verleihen. Je natürlicher die Extraktion und Weiterverarbeitung, um so deutlicher und präsenter fallen die Gerbstoffe aus, um so weniger entsprechen sie einem bekannten Geschmacks- und Wirkungsklischee. 

Damit ein Rotwein ausgewogen und hochwertig schmeckt und wirkt, müssen drei Komponenten Gerbstoffe, Anthocyane und Flavonole balanciert miteinander harmonieren. Genau hier greift aber der Klimawandel ein. Er verschiebt z. B. durch unmäßige Hitze zur falschen Zeit, durch extreme Sonnenbestrahlung, durch Trockenheit mit nachfolgendem Nährstoffmangel oder durch Feuchtigkeit und Wärme, also Pilzbefall und anderen Krankheiten, diese Balance. Die Trauben werden zu früh reif. Die Aromatik bildet sich aber nur bedingt aus. Die Anthocyane bauen ab, statt stabil zuzunehmen. Die Trauben können nicht gesund geerntet, die Beeren nicht ohne korrigierende Eingriffe verarbeitet werden. All das kann man messen, vor allem aber schmecken. Längst bringen die Folgen des Klimawandels die innere Chemie und Biologie der Trauben aus der Balance. Deshalb ergibt es Sinn, im Rotwein die Qualität, Konsistenz und Konstitution von Gerbstoffen physikalisch erfühlen und technisch beurteilen zu lernen; einfach auch deshalb, weil das gewohnte, antrainierte Klischee vom »schönen« Rotwein inzwischen von Industrie und Önologie (fast) beliebig reproduziert werden kann.


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