»Sensorik«. Die Lehre vom Riechen und Schmecken
Über Jahrhunderte hinweg hat man den Wein über sein Aroma bewertet und beschrieben. Für sein Bukett hat man ihn angebaut, für dessen Beschreibung Winzerinnen und Winzer, Sommelièren und Sommeliers ausgebildet, der gesamte Handel der Welt unterwarf sich einem ungeschriebenen Sprach- und Bewertungs-Diktat, das die Welt des Weines wesentlich um Duft, Bukett und Aromen drehen ließ. Daraus entstand eine Weinsprache, die wir nicht nur als albern geschmäcklerisch empfinden, sondern vor allem als ausgrenzend, weil sie jeden, der ihre blumigen Adjektive nicht nachvollziehen kann (oder will), außen vor läßt.
Heute versucht man Wein neu und vor allem anders zu beschreiben. Dabei orientiert man sich an seiner neurophysiologischen Wirkung, die er im Mund auslöst, dem sogenannten Mundgefühl. Das läßt ihn nicht nur aromatisch, sondern vor allem physisch erleben. Es beschreibt, wie er sich im Mund anfühlt, ob er dicht oder transparent wirkt, ob seine Gerbstoffe fein oder hart wirken, seine Säure mager und karg oder lang und erfrischend agiert usw.. Über dieses Mundgefühl wird auch der absolute Wein-Laie in die Lage versetzt, Wein in seiner Wirkung zu beschreiben, womit sich ihm der Zugang zu nachvollziehbaren Kriterien für Qualität eröffnet.
»Qualität« im Wein wird damit konkreter, faßbarer, als in den bisherigen mehr oder weniger blumigen, aber nicht für jeden nachvollziehbaren Beschreibungen von Aromen und Strukturen, die auf subjektivem Empfinden, auf Gewohnheit basierenden Gefühlen und individuellen Vorlieben basierten. Im Mundgefühl aber finden Auge, Nase und Zunge zusammen und liefern über die physische Wirkung des Wein-Eindruckes eine Meßlatte für konkrete Kriterien, die Geschmack erklärbar und Qualität nachvollziehbar machen.
Aufmerksame Sensorik schafft so ein Gedächtnis der eigenen Sinne, denn nur wer für sich formulieren kann, was er riecht und schmeckt, kann sich an diesen speziellen Geschmackseindruck auch noch später erinnern. Sensorik wird zur Technik für bewußtes Erinnern von Geschmack und dessen physischer Wirkung, ermöglicht damit erst deren Vergleich und baut sich so mit der Zeit eine persönliche »Bibliothek« an Geschmackserinnerungen auf, die Weinqualität ohne das geschmäcklerische Gelabere der Vergangenheit nachvollziehbar und verständlich bewertbar macht.
Dieses in Worte gefaßte Erinnern von Geschmack nennt man »Genuss«. Ein lebenslang zu füllendes Puzzle, dem der Rand fehlt, weil Wein in Stil und Charakter viel zu vielfältig ist, um ihn in seiner Gesamtheit erleben zu können. Derart bewußt erlebter Genuss setzt neben der Lust am Wort und dem Interesse am Erleben der eigenen Sinne vor allem Neugier, Toleranz, die Fähigkeit zu Selbstkritik und, ganz wichtig, Demut dem eigenen Urteil gegenüber voraus. Wer reflektiert genießen kann, wird, weit über den Wein hinaus, Natur und Umwelt mit aufmerksameren Augen sehen und seine Mitmenschen gnädiger betrachten ...
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