Marie und Matthieu Boesch scheinen dagegen genau zu wissen, wo sie stehen. Marie ist während der Ernte für den Keller zuständig und hält auf dem Hof Mann, Töchter, Schwiegereltern und Mitarbeiter organisatorisch zusammen. Matthieu wiederum hat den von den Eltern im Jahr 2000 übernommenen Familienbetrieb in aller Stille, mit energischer Unterstützung von Marie, zu einem führenden Biodynamik-Betrieb im Elsaß gemacht.
Die Boeschs, seit 1640 im Elsass ansässig, waren schon immer ein bißchen eigensinnig. Zum Beispiel, wenn der Großvater Weinberge in Steillagen kaufte, als die Nachbarn nach Kartoffeläckern Ausschau hielten. Oder wenn der Vater ganz oben am »Zinnköpfle« Gewürztraminer pflanzte, während die Riesling-Welle durchs Elsaß schwappte. Und auch Marie und Matthieu, die heutige elfte Generation der Boeschs, könnte man als renitent bezeichnen, erklärten sie seinen Eltern doch, als diese ihnen den Betrieb übergeben wollten, daß sie keinen typischen Elsässer Wein machen wollten. Sie wollten richtigen Elsässer Wein machen, der nicht nach Zucker schmeckt, sondern nach Boden, Stein und Mineralien - nach Herkunft eben.
Heute verteilen sich die knapp 15 Hektar Weinberge der Familie auf 40 Parzellen im südelsässischen »Vallée noble«, das Teil des Naturparks »Ballons des Vosges« ist. Der liegt am Fuße des Grand Ballon, des weithin sichtbaren höchsten Berges der Region. Herzstück de Betriebs sind drei Hektar Gewürztraminer-Reben in der Lage »Zinnköpfle«, die 1992 zum »Grand Cru« geadelt wurde. Das gemeinsame Vorkommen der zwei Gesteinsarten Muschelkalk und Rotsandstein macht sie besonders und verleiht ihren Weinen expressiven Charakter und unverwechselbare Eigenart. Hier sind die meisten Rebstöcke 60 und mehr Jahre alt, es gibt dort aber auch Methusalems, die Matthieu Großvater dort 1927 gepflanzt hat.
Nach der Übernahme des Betriebs im Jahr 2000 stellen die jungen Boeschs sofort auf biologischen Anbau um. Ein Jahr später wagt Matthieu – energisch unterstützt von Marie – den Schritt zur Biodynamik. Gedüngt wird seither mit Kompost und Kuhmist, gespritzt werden Tees aus Brennnessel und Weide, denn da ist sich das junge Winzerpaar sicher: »Tote Böden liefern Alkohol, nur lebendige Böden bringen Aroma, Balance und Leben in den Wein«.
Hier sieht man, wofür Matthieu Boesch so hart im Weinberg arbeitet: Lockere Bodenstruktur, eine Verwurzelung in feinster Verästelung, zahlreiche kleine Knöllchenpilze, Indiz für ein lebendiges Mikrobiom, das Bodennahrungsnetz der Mykorrhiza-Pilze. So sieht gute, gesunde Bodenstruktur aus. Pilze sind das Lebenselixier des Bodens, sorgen sie doch in symbiotischem Austausch an den Wurzelsystemen der Pflanzen für die Versorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen, Spurenelementen und Feuchtigkeit. Kunstdünger und Agrarchemie zerstören diese Pilznetzwerke. Dann übernehmen Bakterien den Boden. Deshalb gilt: Je höher der Pilzgehalt, um so gesünder und lebendiger der Boden.
Matthieu erreicht dies durch schonende Bodenbearbeitung zur rechten Zeit, durch langjährige Einsaaten bestimmter Pflanzen für entsprechende Photosynthese und durch regelmäßige Düngung mit Kompost und Komposttees. Wer solch lebendige Böden hat wie er, muß sich um Trockenstress und Nährstoffversorgung der Reben - zumindest bislang - kaum Gedanken machen.
Die Biodynamik wird von Vertretern der »seriösen, faktenbasierten Wissenschaften« immer wieder in Zweifel gezogen und als nicht beweisbare Esoterik abgetan.
Im Bild der Dynamisator, mit dem Matthieu die biodynamischen Präparate 500 und 501 in hoher Verdünnung in Regenwasser vermischt. Kann man für esoterischen Popanz halten. Tatsächlich werden die Blätter der Reben schon nach kurzer Anwendungszeit dicker, sie stellen sich auf, statt zu hängen, und binnen weniger Jahre setzt eine Veränderung der Physiologie der Rebe ein. Der Zeitpunkt der Traubenreife verschiebt sich nach vorne und es stellt sich ein Ertrag ein, der um einiges niedriger ist als in der konventionellen Bewirtschaftung, aber viel konstanter ausfällt, was wissenschaftliche Feldversuche über 25 Jahre hinweg in den USA bestätigen. Beweisen läßt sich die Wirkung der Biodynamik mit dem Spatentest. Er deckt schon nach wenigen Jahren der Bewirtschaftung eine deutliche Verbesserung der Morphologie und der Biologie des Bodens auf, hin zu mehr Bodenleben mit zunehmenden Pilzkulturen.
Matthieu Boesch tritt angenehm zurückhaltend auf. Ein in sich ruhender Mensch, der denkt, bevor er spricht. Als überzeugter Biodynamiker hat er mit Steiner´scher Esoterik aber nichts am Hut. »Was ihr Deutschen mit eurem Steiner habt«, entfährt es ihm, als wir ihn nach seiner biodynamischen Praxis fragen.
Matthieu sieht die Biodynamik als wertvolles, auf Beobachtung beruhendes Erfahrungswissen, dessen Wirkung man sehen, fühlen und erfahren kann. Die von Biodynamik-Kollegen oft zitierte, sich aus Steiners Schriften gerierende Esoterik lehnt er ab. »Damit schaden wir der Idee der Biodynamik«, meint er und weist darauf hin, daß an der nahen Weinbauschule von Rouffach bereits drei Klassen in biodynamischem Weinbau unterrichtet werden, »ohne Esoterik, ohne Ideologie«, wie er betont, »dafür auf wissenschaftlicher, also bodenkundlicher, chemischer und biologischer Basis«. Matthieu hat einen klaren Blick auf das, was er tut, und er argumentiert in einer fachlichen Kompetenz und ideologiefreien Offenheit, die ihn und seine Gedanken so überzeugend machen, wie es seine Arbeit und seine Weine sind.
Holz, Holz, Holz. Soweit das Auge blickt. Je nach Parzellengröße und Erntevolumen mal klein, mal groß. Es dominieren vor allem alte, sorgsam renovierte Fässer den Keller von Familie Boesch. Kein Edelstahltank, keine Betoneier, keine Amphoren. Gemessen an dem, wie sich uns sonst viele Weinkeller präsentieren, wirkt dieser hier wie aus der Zeit gefallen, fast schon anachronistisch - und gerade deshalb so wohltuend unaufgeregt, so beruhigend zeitlos, irgendwie souverän in sich ruhend.
Marie und Matthieu Boesch haben eine selten klare Vorstellung davon, was ihre Trauben können. Sie lassen sie weitgehend selbst zu Wein werden. Ihre Gärungen sind grundsätzlich spontan, wobei die gute Nährstoffversorgung der Trauben durch ihre lebendigen Böden sie problemlos durchlaufen läßt. All ihre Weine, weiß wie rot, absolvieren die Malolaktik meist schon mit der alkoholischen Gärung, weil die Moste kaum Äpfelsäure enthalten, die zu Milchsäure abgebaut werden könnte.
Marie schwefelt die Moste nicht, nur die fertigen Weine, weil sie so lange auf der Vollhefe liegen, daß deren natürliche Reduktivität sie schützt, und die pH-Werte sind so niedrig, daß ihre Mikrobiologie natürlich stabil ist. Viel Zeit im Faß ist für Boeschs Notwendigkeit und Stilmittel zugleich. Schwefel kriegen die Weine nur soviel wie nötig, geschönt wird bei Boeschs nie, Zusatzstoffe kennen sie nicht und so entstehen hier berührend lebendige Naturweine ungeschminkter Ausstrahlung, die den Charakter ihrer Jahrgänge unverfälscht widerspiegeln und sich über Jahre ausgezeichnet entwickeln.
Während Matthieu draußen im Weinberg die Ernte absolviert, kümmert sich Marie zu Hause im Keller um die Verarbeitung der Trauben und Moste.
Die weißen Trauben werden per Ganztraubenpressung zu Mosten verarbeitet, die möglichst trüb per Schwerkraft in die großen, alten Fässer im darunterlegenden Keller fallen, wo sie auf der Vollhefe über viele Monate hinweg reifen. Die roten Trauben werden nicht entrappt, also mit Stiel und Stängel eingemaischt und in großen hölzernen Gärtanks vergoren. Nach dem Abpressen fällt ihr Wein per Schwerkraft in den Faßkeller, wo er in gebrauchten Barriques zu Ende gärt und zur Reifung eingelagert wird.
Der große Gärkeller von Boeschs ist kreisrund und bildet das Zentrum des Weingutes, auf das Marie und Matthieu ihr Lehm- und Strohhaus gebaut haben. Ein Raum beeindruckender Ausstrahlung. Auch hier steht kein einziger Edelstahltank. Die rare Ausnahme. »Unsere Weine sind lebendig«, meint Marie, »Stahl ist ein Korsett, das Weine nicht leben läßt, es macht sie statisch und kalt«. Boeschs kaufen gezielt große alte Fässer, die sie aufwendig renovieren lassen. Manche von ihnen sind 100 Jahre alt. Sie setzen auf Holz, um das für ihre Weine so wichtige Hefelager als Reduktionselement zu nutzen, aber auch, weil sie ohne Temperaturkontrolle darin vergären können. Während der Ernte schläft Marie im Zimmer über dem Gärkeller. Sie kann dort das Blubbern der Gärungen kontrollieren, was sie ruhig schlafen läßt, wie sie lächelnd erzählt. Ein Leben mit und für lebendigen Wein.
Biodynamische Bewirtschaftung folgt keinem Rezept. Biodynamik bedeutet vor allem Beobachtung. Lernen, Reflexion, Selbstkritik. Insofern ist Biodynamik alte empirische »Beobachtungswissenschaft«. Sie wird deshalb von der modernen In-Vitro-Wissenschaft infrage gestellt, obwohl diese von der modernen Mikrobiom-Wissenschaft wiederum zunehmend widerlegt wird. Panta rei. Wandel allenthalben.
Während sich die konventionelle Agrarchemie-Bewirtschaftung in der Klimakrise existentiellen Problemen gegenübersieht, beweist die Biodynamik ihre Überlegenheit. Sie reagiert nicht nur auf Herausforderungen, sondern versucht sie als komplexen Mechanismus schon im Vorfeld zu verstehen, um dann proaktiv zu agieren. Matthieu Boesch sieht z. B. in seinen Böden den Steuermechanismus für die Traubenqualität. Er sät Hafer und Roggen, um Phosphor im Boden pflanzenverfügbar zu machen und versorgt, wenn nötig, durch Einsaaten unterschiedlicher Wurzeltiefen das Bodennahrungsnetz mit Nährstoffen; so verhindert er im Steillagen-Weinbau Erosion und Trockenstress der Reben.
Pinot Noir aus dem Elsaß wurde lange belächelt - und wird es noch immer. Doch inzwischen gibt es auch dort außergewöhnlich gute Exemplare. Sie folgen einem eigenen Duft- und Geschmacksprofil, können aber auf Augenhöhe mitspielen im Konzert der großen Pinot Noirs dieser Welt.
Boeschs haben viele verschiedene Klone und Massenselektionen in ihren Pinot-Lagen stehen. Biologische und genetische Diversität sind für sie ein Schlüssel zur Qualität. Sie entrappen ihre Pinots nicht, vergären sie also wholebunch mit Stiel und Stängel, was ihren beiden Pinots potent frische Komplexität und kompakte Dichte im Mundgefühl verleiht. Ihre Spitzen-Lage »Luss« begeistert mit feinen Röstaromen und von filigraner Säure getragener Straffheit, die lange am Gaumen nachklingt. Dichte Substanz in seidiger Verpackung. Raffiniert fein extrahierte Gerbstoffqualität. Boeschs schwefeln ihre Rotweine nicht zusätzlich. Sie verblüffen deshalb im Mundgefühl mit ungewohnt räumlicher Offenheit, entfalten ätherische Aromatik und sorgen so für tiefgründig anspruchsvolles Pinot-Vergnügen.
Trockener Gewürztraminer?
»Wir suchen Frische in unseren Weinen«, meint Marie und verweist auf ihr Gewürztraminer-Grand Cru vom Zinnköpfle, der berühmten und besten Lage des Valée noble. Er ist knochentrocken. Sehr ungewöhnlich. Als Marie und Matthieu den Wein als gemeinsames Projekt 2014 auf den Markt bringen, regen sich viele im Elsaß darüber auf und Vater Gérard droht, den beiden das elterliche Erbe zu entziehen. Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt, der Wein brachte dem jungen Weingut internationale Aufmerksamkeit und steht heute wie ein Denkmal für das Weingut.
Eindrucksvoll demonstriert er das Zusammenspiel der Lage Zinnkoepfle mit der Rebsorte Gewürztraminer. Da können nicht viele im Elsaß mithalten. Allerdings stammen die Reben auch aus den 1950er Jahren, manche hat der Großvater sogar schon 1937 und 1927 gepflanzt.
Knochentrockener Gewürztraminer hat im Elsaß keine Lobby und keine Tradition. Boeschs haben damit eine kleine Revolution angezettelt. Feine, kaum spürbare filigrane Säure verleiht dem Prachtexemplar attraktive Frische im Trunk; statt breiter Struktur mit weicher Konsistenz agiert hier pikant würzige, straff mineralische Eleganz, spürbar salzig am Zungenrand, aufregend würzig ohne jede aromatische Arroganz, eher zurückhaltend im Duft, dafür griffig im Mundgefühl, enorm tiefgründig und dicht in der Wirkung - und dann klingt eben doch noch in fast sahnig wirkender Konsistenz zarter Rosenduft am Gaumen nach. Ein Meisterwerk, das Staunen macht. Ein Gewürztraminer, der seine Größe nachvollziehbar macht im eindrücklichen Profil seiner offensichtlich erstklassigen Lage.
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