Taurasi. Schon mal gehört? Der Name steht für einen Ort im süditalienischen Kampanien, aber auch für einen in seiner Gerbstoffkonsistenz fast schockierend trocken und rustikal wirkenden, dunkelfarbigen Rotwein, dessen Weinberge in fast schon alpin wirkender Landschaft auf einer Höhe zwischen 400 und 700 Metern liegen. Irpinia heißt die Gegend. Uraltes Weinbauland. Hier wurde schon in vorchristlicher Zeit Wein angebaut. Die Region wirkt bäuerlich und, verglichen mit dem neureichen Piemont oder der aufgebrezelten Toskana, oberflächlich betrachtet durchaus rückständig. Und doch hat sie etwas Visionäres an sich, denn an ihr scheint der »Fortschritt« der Önologen- und Industrialisierungs-Epoche Italiens weitgehend vorbeigegangen zu sein. Flächendeckend abgespritzte Felder und Weinberge sind hier ebenso die Ausnahme, wie offene Böden ohne Begrünung. Hier sind die Weingüter noch in Familienbesitz, klein und bescheiden im Auftritt, ihre vielen kleinen, oft weit verstreuten Parzellen liegen an Olivenhainen oder auf Waldlichtungen, umgeben von Eichenwäldern. »Moderne« Neuanlagen, die den Monokultur-Charakter des modernen Weinbaus auch in diese Region Italiens tragen, gibt es, sie scheinen aber (noch) die Ausnahme zu sein. Weinbau ist hier noch eine lebendig erhaltene Erinnerung an ursprüngliche Kulturlandschaft.
Taurasi erhielt bereits 1970 den DOC- und 1993 den DOCG-Status. Das ist nicht vielen Weinbauregionen Italiens beschieden und noch heute zählt man, zumindest in Italien, den Wein zu besten des Landes; man vergleicht ihn immerhin mit Barolo oder Brunello di Montalcino. Trotzdem ist Taurasi hierzulande kaum bekannt, weil bei uns Rotwein schön weich, süßlich und reif schmecken muß. All das aber ist Taurasi nicht. Seinen großen Ruf in Italien verdankt Taurasi der Reblaus-Katastrophe. Der eingeschleppte Schädling vernichtete in den 1920er Jahren große Teile der europäischen Weinberge. Weil Irpinia aber hoch liegt und seine Böden vulkanischen Ursprungs sind, die durch Verwitterung sandig feinkörnig sind, konnte der Parasit hier nicht wüten, er mag sandige Böden nicht. Also gingen ganze Tankzüge voller Taurasi über viele Jahre hinweg über die legendäre »ferrovia del vino«, die Eisenbahnlinie des Weines, nach Bordeaux, ins Piemont und in die Toskana.
Aglianico, die Rebsorte, die Taurasi zu dem macht, was er ist, war unter manch anderen (wie z. B. Primitivo aus Apulien oder Gamay aus Serbien) der Retter in der Not und hinterließ offensichtlich so guten Eindruck, daß ihr noch heute großer Ruf vorauseilt. Im Zeitalter der Industrialisierung und beliebigen geschmackliche Beeinflussung durch die Zusatzstoffe der modernen Kellerwirtschaft aber hat sich der Zeitgeschmack gewandelt. Rotweine entsprechen heute weitgehend austauschbaren Geschmacksklischees. Für regionalen Charakter ist nicht mehr viel Platz auf dem Markt. So kantige Charakter-Sorten wie Aglianico fristen heute deshalb ein Dasein in der Nische der Nische des Marktes. Wer sucht heute schon dunkelfarbige, tanninbeladene, säurereiche Rotweine, die man erstmal fünf bis zehn Jahre einlagern muß, bevor man sie mit Genuß trinken kann? Aglianico besitzt legendäres Alterungspotential und bereitet tatsächlich in der Jugend nur eingeschränkt Vergnügen, zu kantig und austrocknend wirkt seine massive Gerbstoff-Packung im Mundgefühl. Man könnte ihre Weine mittels moderner Weinbereitungsmethoden und entsprechender Zusatzstoffe durchaus »weichspülen«, doch genau das wollen die Winzer von Irpinia nicht und das ist gut so.
Das Weingut Il Cancelliere befindet sich im Herzen von Montemarano, einem Dorf mitten im Kerngebiet des Taurasi. Soccorso Romano hat es gegründet und betreibt es heute zusammen mit Sohn Enrico und dem Önologen und Weinmacher Antonio di Gruttola. Familie Romano versteht sich im besten Sinne der Region als traditioneller Betrieb. Das klingt in unseren Ohren nicht gut, weil wir den Begriff »Tradition« für einen der mißbrauchtesten im Wein überhaupt halten. Hier aber wird er mit Sinn erfüllt, denn Romanos bewirtschaften ihre 5 Hektar Reben biologisch und sie sind Mitglied in der Naturwein-Vereinigung »VinNatur«, die zu den rigorosesten Winzervereinigungen gehört, die wir kennen.
Das bedeutet, daß ihre Weine so gut wie nicht geschwefelt werden und im Keller ohne Zusatzstoffe realisiert werden. Deshalb wird hier von Hand geerntet, weil nur so die Gesundheit und Qualität der Trauben garantiert werden kann, die für derart schonenden Ausbau notwendig ist. Romanos pflegen die alten bäuerlichen Traditionen ihrer Region bewußt. Die Kellerei befindet sich im Haus der Familie und ist von den Weinbergen umgeben, aus denen ihre Trauben stammen. Im Keller sucht man vergeblich nach Technik. Gelesen wird hier übrigens zwischen Mitte Oktober und Mitte November, ungewöhnlich spät für den Mezzogiorno. Die Trauben werden abgebeert und in alten Holzfässern spontan auf den wilden Umgebungshefen vergoren. Anschließen absolvieren sie die zweite Gärung, den sogenannten Milchsäureabbau, in Edelstahltanks und reifen dann für 12 bis 36 Monate, je nach Weinqualität, auf der Feinhefe in großen alten Holzfässern aus slovenischer Eiche, um nach der Abfüllung noch einmal mindestens sechs Monate auf der Flasche zu reifen, bevor sie in den Verkauf gehen.
Aglianico braucht Zeit. Sein stets hoher Alkohol von 14,5 bis 15,5 Vol.% will harmonisch eingebunden werden in eine in der Jugend stets massiv hart und trocken wirkende Packung von Gerbstoffen. Sie sind hier physisch spürbar wie in wenigen anderen Rotweinen. Familie Romano pflegt bewußt eine bäuerlich rustikale Stilistik, frei von den »mildernden« Eingriffen« des Zeitgeistes. Taurasi, wie er ursprünglicher und »wilder« kaum sein kann. Gewöhnungsbedürftig, gewiß, aber auch spannend regional und so ganz anders als sich der moderne glatt gebügelte Kommerz-Italiener den ahnungslosen Export-Zungen präsentiert. Gelebte Diversität auf der Basis lokaler Küchen- und Geschmacksvorlieben. Lebendiger Wein, der sich ständig auf der Flasche verändert, bis er irgendwann trinkreif ist, erkennbar dann an einem charakteristisch intensiven, samtig den Mund füllenden Lakritzgeschmack.